Iris-Astrid Kern, Herausgeberin der Monatszeitschrift AGORA-Magazin. www.agora-magazin.ch
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Entwicklungsfragen und -antworten für Eltern, Erzieher, Lehrer und Ausbildner
Entbildungskräfte und ihre Überwindung
Es wird im Zusammenhang mit Erziehung und Schule immer wieder auch von Bildung gesprochen: Bildungssystem, Ausbildung usw. Das rührt her aus der Vorkriegszeit, in welcher es noch gebildete Menschen gab, die wiederum ihre Bildung an andere weitergaben. Es war ein Ideal der Gesellschaft, das Bildungsniveau so hoch als möglich zu halten. Jeder heranwachsende Bürger sollte schon durch die Schule Zugang zu Bildung erhalten und sollte so gut als möglich ausgebildet werden. Der zweite Weltkrieg wurde von den kulturfeindlichen Mächten benutzt, um mittels Propaganda die Bildung, die Hochblüte der europäischen, damals insbesondere der deutschsprachigen Kultur, durch gezielte Verleumdung der hervorragendsten und wichtigsten Bildungsquellen auszutilgen. Diese Propaganda setzte sich mit machtvollen Mitteln anstelle von Bildung in der gesamten westlichen und mitteleuropäischen Welt durch.
Heute gibt es an den Stellen, wo Bildung verantwortet werden sollte, keine adäquate Vorstellung mehr, was unter Bildung überhaupt zu verstehen ist. Es ist ein schönes, aber vages Wort, weil es seinen Inhalt verloren hat. Eine Ahnung von seiner Bedeutsamkeit ist unter Umständen noch vorhanden bei denjenigen, die heute Bildung fordern, das ist alles. Was dann von den vom Volk delegierten Verantwortlichen in diesem Namen getan wird, ist aber etwas ganz anderes. Das Volk muss darüber Bescheid wissen, um diejenigen Menschen ausfindig machen zu können, denen es seine Kinder anvertrauen kann.
Wie man vom Sprungbrett abstossen muss, um ins Wasser zu springen, so kann vom Negativen abgestossen werden, um das Positive zu finden: einen Begriff dessen, was Bildung sein könnte, damit sie ihren Namen auch verdient. Es wird aber nicht so schnell zu bekommen sein. Und: Wir können heute nicht einmal bei Null anfangen. Wir stecken so tief im Minus, dass wir im Minus, im Negativen anfangen müssen. Was das heisst, das weiss jeder, der einmal Schulden hatte und sie abverdienen musste. Mit dem Zustand unserer Bildung heute steht es nicht anders. Und die Erwartung, gleich auf alles in ein, zwei Sätzen eine Antwort zu bekommen, ist gerade Teil des Problems, das aufgerollt werden soll. Also befassen wir uns erst mit dem Negativen. Es ist das, was wir alle kennen und da wissen wir auch, wovon wir reden.
In Bezug auf die Bildung befinden wir uns heute in einem desolaten Zustand. Wir haben nicht nur die sogenannt Ungebildeten, wie es sie zu allen Zeiten gegeben hat, sondern gerade diejenigen, bei welchen man Bildung erwarten würde: die Hochschulabgänger und diejenigen, welche ihrer Obhut anvertraut sind, sind diejenigen, welche mit allen ihren Kräften aktiv dafür sorgen, dass es weniger und weniger Bildung gibt. Ich behaupte nicht, dass sie das absichtlich tun. Ganz bestimmt tun sie nach ihrem besten Vermögen, was sie aus welchen Gründen auch immer für das Richtige halten – sind sie selbst ja schon Kinder der kulturfeindlichen Propaganda. Aber eines sind sie nicht: Kompetent in Sachen Bildung. Sie sind kompetent in der Ent-bildung.
Es sind dies diejenigen, welche unter anderem für unser Erziehungssystem sorgen. Sie sind Delegierte des Volkes, um für die Erziehung und Aus-Bildung des Nachwuchses, der Zukunft der Gesellschaft zu sorgen. Sie sind Verantwortliche. Aber sie werden nicht zur Verantwortung gezogen. Im Gegenteil. Sie erhalten immer mehr Steuergelder um noch mehr Niedergangskräfte durch die Leiber unserer Kinder in unsere Gesellschaft hineinzupumpen.
Es sind die Schweizer Bürger, welche nicht nein sagen, obwohl sie sehen, wie schlecht an ihren Kindern gehandelt wird. Der Bürger geht offenbar immer noch davon aus, dass ein staatliches Schulsystem, welches lebensuntüchtige, nicht lernfähige und -willige Lehrlinge hervorbringt, doch Intellektuelle hervorbringen könnte, welche die Missstände, aus welchen sie selbst hervorgehen, beheben könnte. Sich in diesem Falle noch auf Gottvertrauen zu berufen, ist nicht mehr zeitgemäss. Die Wirklichkeit heute fordert verantwortliche Menschen. Ver-antworten aber kommt von Antwort. Sie fordert Menschen, die Antworten haben auf die Wirklichkeit, die sich mit der Wirklichkeit auskennen, die sich von der geistigen Nabelschnur der Propaganda selbst weggerissen haben. Sie haben Antworten aus Erfahrung, nicht von der stillen Post.
Spätestens seit der 1968er Generation ist Urteilskraft tabu. Es gibt nur noch Vor-urteile: vorbereitete Schein-Urteile, welche nicht die Wirklichkeit treffen, sondern Meinungen und Lügen, die den autoimmunkranken Seelen für wahr verkauft werden – mittels Radio- und Fernsehgebühren, von Funktionären verteilten Steuergeldern, freiwillig entrichteten Abonnementskosten, Kinoeintritten usw. Und sie werden auch verschenkt. Gratis. An unsere Kinder. Von Eltern, Kitaleiterinnen, Lehrern und so weiter. Gerade diejenigen, die den andern Vorurteile vorwerfen, sind es, die selbst nicht anders als auf der Basis von Vorurteilen leben. Finden sie im Angebot ein Vorurteil, das ihnen sympathisch scheint, sie halten es sofort für DAS Urteil überhaupt. Sie wissen nicht, dass sie damit bis zum Scheitel im Minus stehen, noch nicht einmal den Nullpunkt auf dem Weg zu einem eigenen Urteil erreicht haben.
Kürzlich habe ich auf DRS eine Sendung über die Entstehungsgeschichte der WOZ, einer linken Wochenzeitschrift, gehört. Ein interessanter Beitrag. Die Leute haben offensichtlich über die Jahre gewisse Dinge gelernt, weil sie mit ihrer Zeitung überleben wollten. Sie haben mühsam gelernt, was für andere, vor allem für diejenigen, gegen die sie sich stark machen, (und bei denen sie hätten in die Lehre gehen können) selbstverständlich ist – und sie sind stolz darauf. Die Redaktion von Radio DRS hat nichts dergleichen auch nur ansatzweise bemerkt. Die Moderatorin fand es toll.
Dieser Zustand wurde herbeigeführt durch – ich nenne sie – Entbildungskräfte. Diese Entbildungskräfte stammen her von Ideologien, die sich in der Gesellschaft durchgesetzt haben. Es sind Ideologien, die schwach machen. Deshalb konnten sie sich durchsetzen, weil sie geringere Anstrengung verlangen, als ihr Gegenteil, die stärkende Wirklichkeit. Alles, was die Herausforderung meidet, ist bequem, findet leicht Mehrheiten. Der Starke differenziert sich von den anderen, grenzt sich ab, er strebt allein vorwärts, geht durch Einsamkeiten. Das ist unbequem, zu wenig gleichweich und führt auf direktem Weg zum politisch Unkorrekten.
Hiermit ist nur vage angetönt, um was es geht. Es bedarf einer längeren Ausführung, um sich eine genaue Vorstellung dieser Entbildungskräfte zu machen. Sie können sehr akribisch beschrieben, psychologisch untersucht werden. Das würde aber den Rahmen dieses Textes sprengen. Ganz allgemein kann dazu noch gesagt werden: Es gibt drei Gruppen davon. Die einen untergraben die gesunden Mutkräfte, die sich am Widerstand heranbilden. Die Zweiten verderben die gefühlsmässige Unbefangenheit, die sich an eine gesunde Entwicklung der Sinne anknüpft. Die Dritten schalten das eigenverantwortliche Denken aus, durch die angesprochene, gezielte globale Propaganda, die absichtlich die Unwahrheit verbreitet – so massiv und machtvoll, dass der einzelne daran verzweifelt, weil er sein eigenes Denken als zu schwach einschätzt, solange, bis er es – mutlos geworden - gar nicht mehr betätigt. Er übernimmt die breitgefächerten Lügen der Propaganda anstelle der einfachen, selbst hervorgebrachten Wahrheit.
Unter diesen Lügen gibt es unzählige kleine und eine oder wenige ganz grosse, von denen heute kaum noch jemand etwas ahnt. Es wird die Geschichtswissenschaft der Zukunft vielleicht darauf kommen, wenn sie nicht vorher schon ausstirbt aus Mangel an Menschen. Denn durch diese drei Entbildungskräfte ist die Selbstverleugnung des Menschen perfekt. Das heisst: alles, was den Menschen zum Menschen macht ist abgeschafft und übrig bleibt - ein tierisches Wesen. Heute sind gewisse Politiker sogar stolz darauf, wenn sie als Animal politique bezeichnet werden.
Im konkreten Lehrbetrieb sind die drei Entbildungskräfte wirksam durch die Bearbeitung des Schulstoffes von bereits über mehrere Generationen hinweg in ihrer menschlichen Substanz mehr und mehr verkümmerten Lehrern. Die Diagnose gilt aber auch für andere Erzieher und auch für Eltern, weil sie selbst bereits dieses Schulsystem durchlaufen haben. Wir tragen heute alle diese Krankheit in uns und sie sind schlimmer als alle Vogelgrippen usw. zusammen – weil man diese Krankheit an sich nicht spürt. Das Einschlafen spürt man nie. Aber das Aufwachen – in eine kranke Gesellschaft hinein – muss umso schmerzlicher sein. Heute zwickt, zwackt und schmerzt es bereits an allen Ecken und Enden: das kranke Schulsystem, das kranke Gesundheitssystem, die kranke Umwelt, das kranke Finanzsystem ...
Wir stehen gegenüber der Agonie von Institutionen. Es sind die Saurier der heutigen Zeit, die da langsam ihrem Tod zugehen. Da kann nur Eines helfen: der einzelne, konkrete Mensch in der gegenwärtigen Gemeinschaft, in die ihn sein Schicksal hineingestellt hat. Auf unser Thema bezogen, heisst das:
Heute ist die dringendste Aufgabe jeglichen in irgend einer Form Erziehungsverantwortlichen: den Kindern und Jugendlichen den Zugang zu der wahren Wirklichkeit eigenen Wahrnehmens und Denkens zu öffnen, beziehungsweise ihn den kleinen Kindern nicht vom ersten Tag an schon und immer mehr und mehr zu verschliessen, sondern – immer gegen den Strom schwimmend – offen zu halten. Das bedeutet aber auch: selbst zu wissen und zu können, um was es da geht. Das ist gar nicht selbstverständlich.
Damit würde der Boden geschaffen, auf welchem Bildung wieder entstehen könnte. Es braucht ein Wissen darum, was Wahrnehmen ist, was es für Sinne gibt, wie man sie gebraucht, wie man denkt und so weiter. Dieses Wissen existiert, man kann es finden, wenn man es sucht.
Bildung und Erziehung konkret in die Tat umzusetzen, ist selbst wiederum eine Aufgabe, die nicht pauschalisiert über alle Altersgruppen gelöst werden kann, sondern sie muss den verschiedenen Altersstufen angepasst sein. Dazu braucht es einen positiven Begriff von Bildung. Wir müssen den SINN der Bildung wieder kennenlernen. Und es braucht Menschenkenntnis, das Wissen, wie sich der Mensch seelisch-geistig entwickelt. Das wäre ein mögliches Thema für eine Fortsetzung.
Iris-Astrid Kern, geb. 1968, Studium der Psychologie und Publizistik mit Abschluss lic.phil. im Jahr 1995. Pädagogische, künstlerische und philosophische Weiterbildung. 17 Jahre Arbeit in einem Kleinunternehmen, daneben Bilder-Ausstellungen, Kurs- und Vortragstätigkeit. Freie publizistische Tätigkeit. Seit 2013 Herausgeberin der Monatszeitschrift AGORA-Magazin. www.agora-magazin.ch, www.atelier-kern.ch