David Scholl, Zürich

Einleitung

Der Konstruktivismus hat seinen Siegeszug in der Pädagogik und an den Pädagogischen Hochschulen, den Ausbildungsstätten für zukünftige Lehrpersonen, in den 1990er Jahren begonnen und diesen mittlerweile erfolgreich abgeschlossen.

Wer sich heute zum Konstruktivismus bekennt, ist nicht nur modern, er darf sich auch eines weitläufigen Kreises von Gleichgesinnten in pädagogischen Kreisen erfreuen. Entdeckendes und offenes Lernen, Autonomie, Gruppenarbeit, Werkstatt- und Wochenplanunterricht, deren Anwendung im heutigen Schulunterricht als selbstverständlich gelten, haben alle ihre Wurzel im konstruktivistischen Denken. Ohne Verständnis des konstruktivistischen Ansatzes ist der heutigen Schulunterricht und der auf der Kompetenzorientierung aufgebaute Lehrplan 21 nicht nachvollziehbar.

Im Folgenden soll der Begriff "Konstruktivismus" und seine Folgen auf den Unterricht erläutert werden. Anschliessend wird der konstruktivistische Unterricht mit dem "traditionellen" Unterricht verglichen, die problematischen Aspekte des konstruktivistischen Ansatzes ausgeführt und abschliessend die wesentlichen Erkenntnisse formuliert.

1.) Der Konstruktivismus und seine Auswirkungen auf den Unterricht

Grundsätzlich geht der Konstruktivismus davon aus, dass menschliches Erkennen der Aussenwelt, welche ausserhalb des beobachtenden und erkennenden Menschen liegt, grundsätzlich unmöglich ist. Alles, was von dieser äusseren, an sich gegebenen Realität gewusst werden kann, schafft sich der Beobachter selbst. Und hier kommen wir zur zentralen Aussage der Vertreter des (radikalen) Konstruktivismus: "Nichts an Wissen wird entdeckt, alles wird erfunden." Wohlgemerkt: Dies heisst nicht, dass die Existenz einer ausser von uns existierenden Realität von Dingen geleugnet wird! Es wird jedoch behauptet, dass alles, was Menschen von dieser äusseren Realität wissen können, eine "Konstruktion" ist. Diese Sichtweise hat gravierende Konsequenzen für die Sicht auf die Welt:

  1. Jeder von uns hat eine andere Sichtweise seiner jeweils eigenen Realität;
  2. Die Wissenschaft ist nicht in der Lage, objektive Wahrheiten als korrekte Abbilder einer äusseren, gegebenen Welt zu liefern. Auch wissenschaftliches Wissen ist somit nur "konstruiertes Wissen".

Diese Sichtweise des Konstruktivismus hat in der Pädagogik dazu geführt, dass der Lernprozess als ein individueller Vorgang der aktiven Wissenskonstruktion verstanden wird. Wissen wird demnach nicht einfach angeeignet oder durch Wissensvermittlung von der Lehrperson (wie es z. Bsp. beim Frontalunterricht der Fall ist) übernommen, sondern selbstaktiv und individuell konstruiert. Dementsprechend ist Wissen durch Lehrpersonen nicht vermittelbar (!), sondern muss immer wieder individuell konstruiert und erweitert werden.

Grundlegende Annahmen von konstruktivistisch orientierten Lerntheorien sehen u.a. wie folgt aus:

  • Es kann nur verstanden und gelernt werden, was sich mit bereits vorhandenem Wissen verbinden lässt;
  • Die Konstruktionsprozesse der Schüler sind verschieden; deshalb sind auch die Ergebnisse der Lernprozesse nicht identisch;
  • Wissen ist immer "subjektives" Wissen, das sich selbst für Lernende, die im gleichen Kontext lernen, beträchtlich unterscheiden kann. Auch deshalb sind die Ergebnisse von Lernprozessen verschieden;
  • Von besonderer Bedeutung ist das Prinzip der Selbstorganisation: Der Mensch als in sich geschlossenes System organisiert sich selbst und organisiert damit für sich die Welt;
  • Selbstorganisation verbindet sich mit Eigenverantwortlichkeit. Der Mensch ist für das eigene Lernen verantwortlich.

Daraus ergeben sich konkrete Anforderungen an einen konstruktivistischen Unterricht: Eigenaktives konstruiertes Lernen, soziales und kooperatives Lernen, selbstgesteuertes und durch die Lehrperson als Coach unterstütztes Lernen. Dabei spielen das Vorwissen, die kognitiven Strukturen der einzelnen Schüler, die persönliche Identifikation mit den Lerninhalten und die soziale Interaktion eine wesentliche Rolle.

2.) Konstruktivistischer Unterricht und traditioneller Unterricht im Vergleich

Konstruktivistischer Unterricht setzt auf die Aktivität seitens der Schüler, die anhand von lebensnahen Problemschilderungen ihren eigenen Lernprozess weitgehend selber gestalten. Die Lehrperson unterstützt, berät und regt diesen Prozess als Coach an. Sie schafft für die Schüler eine situierte Lernumgebung. Das heisst: Die Schüler müssen sich mit konkreten komplexen, lebens- und berufsnaher Aufgabenstellungen in verschiedenen Situationen auseinandersetzen. Entlang dieser geschaffenen Situationen entwickeln die Schüler ihr Wissen selbst und passen es in ihre individuelle Wissensstruktur ein. Die Schüler sind in erster Linie als "Problemlöser" bei der Erledigung dieser Aufgaben tätig, während die Lehrperson als Coach die Schüler in ihrem Lernprozess begleitet. Diese von der neuen Lernforschung der Lehrperson zugedachte Rolle als Coach ist aus dreierlei Gründen als einschneidend und problematisch zu sehen:

  1. Eine der neuesten und umfassendsten Studien von John Hattie, welche die Indikatoren für gute Schülerleistungen untersuchte (siehe hierzu das im Jahre 2013 auf Deutsch erschienene Buch "Lernen sichtbar machen"), kam zu einem klaren Ergebnis: Die Person des Lehrers bzw. der Lehrerin ist herausragend für den Lernerfolg! Insofern ist es unverständlich, dass im "modernen" Schulunterricht die Lehrperson zum Coach "degradiert" wird und die Schüler im Rahmen von offenen Lernumgebungen wie Werkstätten ihren Lernprozess selber gestalten sollen.
  2. Die Lehrperson sieht sich dadurch in eine neue, nebensächliche Rolle versetzt, der Fokus ist auf den Schülern, die Lehrperson nur noch Coach und Begleiter. Es ist zu hinterfragen, ob nicht der heute oftmals beklagte Autoritätsverlust der Lehrperson ihren Grund auch (neben u. a. teilweise haarsträubendem Auftreten von Lehrpersonen in Sachen Kleider; es ist manchmal kaum zu unterscheiden, wer Lehrperson ist und wer die Schüler sind!) hierin findet.
  3. Vor allem schwache Schüler leiden unter der neuen Coachfunktion der Lehrperson, sind diese doch nur allzu oft überfordert mit offenen Lernumgebungen und benötigen eine Lehrperson, die sie stark instruiert und den Lernstoff vermittelt. Diese Schüler sind mit der wenig angeleiteten Form des offenen Unterrichts überfordert.

Demgegenüber wird bei der traditionellen Sicht von Unterricht Wissen durch Experten nach objektiven Kriterien festgelegt und entsprechend durch die Lehrperson an die Schüler vermittelt. Die Lehrperson ist dabei aktiv. Sie erläutert den Stoff, ist Vermittler und Präsentierer neuer, klar strukturierter Inhalte. Die Schüler sind vornehmlich in einer aufnehmenden Rolle und werden dabei stark von aussen geleitet. Ein solcher Unterricht richtet sich nach den zugrunde liegenden Wissenschaften aus und wird von ihnen geleitet.[1]

Während der konstruktivistische Unterricht stark auf die Problemlösung im späteren Beruf und Alltag der Schüler und auf erfahrungs- und handlungsorientiertes sowie kooperatives Lernen ausgerichtet ist, blendet der wissenschaftsorientierte Unterricht die Berufs- und Alltagssituation oft aus und lebt im Wesentlichen von einer den Lernstoff vermittelnden Lehrperson. Im Vergleich zum traditionellen Unterricht fällt beim konstruktivistischen Unterricht die starke Betonung des Lernprozesses auf bei gleichzeitiger Zurückstellung der inhaltlichen Wissensseite, was sehr problematisch ist, jedoch insofern konsequent ist, als nach dem konstruktivistischen Ansatz der Inhalt seinen orientierenden und verbindlichen Charakter verloren hat. Dieser Aspekt wie auch die in unserer westlichen Welt fehlenden gemeinsamen Werte und die fehlende Bereitschaft zu verbindlichen Normen in Staat und Gesellschaft (u.a. Folge einer falsch verstandenen Toleranz) dürften wohl auch mitentscheidend für die Abwendung von der Wissensvermittlung hin zur Kompetenzorientierung im Lehrplan 21 gewesen sein. Wenn Wissen beliebig und austauschbar wird, dann ist eine verbindliche Festlegung von Wissen in Lehrplänen kaum mehr möglich. Es kann deshalb durchaus die These vertreten werden, dass die Kompetenzorientierung die Antwort unserer liberalen Gesellschaft auf die eigene Orientierungslosigkeit darstellt.[2]

3.) Zur Problematik des konstruktivistischen Ansatzes

Dass das Vorgehen und die Methodik des konstruktivistischen Denkens mit den offenen Lernumgebungen und dem entdeckenden Lernen jedoch zu besseren Ergebnissen als der traditionelle Unterricht führt, ist weder durch Wissenschaft noch durch Studien bestätigt, wie zwei Dozenten an einer Pädagogischen Hochschule gegenüber dem Verfasser in persönlichen Gesprächen mitteilten und auch im Einklang mit der besagten Hattie-Studie steht. Doch harte Fakten spielen keine Rolle, wenn der Mainstream sich den Weg gebahnt hat und gewisse Themen "heilige Kühe" sind, über die nicht diskutiert werden darf: Am Konstruktivismus und den daraus fliessenden offenen Lernumgebungen führt heute kein Weg vorbei! Umso wichtiger ist es deshalb auf weitere problematische Aspekte eines konstruktivistischen Unterrichts hinzuweisen, da der heutige Unterricht und der Lehrplan 21 mit seiner Kompetenzorientierung von diesem Ansatz bestimmt sind:

3.1 Lernen als Erfinden – Lernen als Entdecken

Eine wesentlicher Grundpfeiler des Konstruktivismus ist, dass Erkennen nur Erfinden sein kann und nie entdecken, weil der Zugang zur "Welt da draussen" verstellt ist, da es eine äussere erkennbare Wahrheit nicht gibt. Dies kann dazu führen, dass das zu behandelnde Sachthema in der Schule nicht mehr wirklich durchdrungen wird, weil das Produkt der Schüler als beliebig und individuell angesehen wird. Die Themen können so "entmaterialisiert" werden, haben keinen Inhalt mehr. Statt Aneignung von Wissen und Erlernen von Begründungen steht der Lernprozess im Fokus. Der Weg wird dann plötzlich zum Ziel.

3.2. Situatives Lernen

Nach dem konstruktivistischen Ansatz macht Lernen nur Sinn, wenn es anhand von konkreten Situationen erlernt wird, nur so bleibt das Erlernte nicht nur "träges Wissen" sondern kann in Problem- und Anwendungssituationen mobilisiert werden. Deshalb brauche schulisches Lernen immer echte "Problemsituationen", mit denen sich die Schüler auseinandersetzen können.

Dies klingt an sich logisch und nachvollziehbar, doch verengt es den Bildungsbegriff in problematischer Weise. Ein solches Lernen hat in erster Linie nur noch die Funktion eines gebrauchsorientiertes Lernens in einzelnen Situationen, was gerade nicht der Zweck der Schule sein kann. Problemorientiertes Wissen ist zwar richtig und sinnvoll, jedoch benötigen die Schüler generalisiertes und systematisches Lernen, das sie generell in Beruf und Alltag anwenden können. Zudem verengt ein solcher Lernansatz den Begriff Bildung elementar: Die Aufgaben der Schüler wird auf reine Problemlösung reduziert. Dagegen vernachlässigt ein solcher Ansatz eine zentrale Aufgabe der Schule, nämlich die Weitergabe des Denkens und das Verständnis unserer Kultur. Sie richtet sich einseitig an Nützlichkeitsüberlegungen im Sinne der Wirtschaft und des Berufsalltags aus und sieht den Menschen nur noch als rationalen Problemlöser, der handlungs- und produktorientiert durch das Leben schreitet. Statt Bildung reine Ausbildung.

3.3. Leistungsbeurteilung noch möglich?

Die Erfassung und Bewertung von Schülerleistungen gehört zu den festen und für Schüler wie Lehrpersonen unausweichlichen Elementen der Schule und des Unterrichts. Dieser Aspekt ist jedoch nicht nur hinsichtlich der allgemeinen Selektionsfunktion von Schule – auch im Hinblick auf den Übertritt in andere Schulen, Antreten von Lehrstellen etc. -, sondern für die einzelne Lehrperson insbesondere für die Beratung von Schülern und Eltern sowie zur Einschätzung und Überprüfung der Wirksamkeit des eigenen Unterrichts wichtig. Kontrollen des Lernprozesses und der Lernergebnisse gehören elementar zum Lehr-Lern-Geschehen.

Wie aber soll dies im Kontext eines konstruktivistischen Verständnisses von Unterricht noch umsetzbar sein? Wenn es nämlich die Sache und den Inhalt nicht mehr gibt und wenn Lernen nur noch von aussen von der Lehrperson angestossen wird, der jedoch von den Schülern eigenständig verläuft, wenn Wirklichkeit immer nur je individuell "konstruiert" wird und jede Konstruktion an sich ihr Recht hat (solange sie sich nicht zur allein wahren erheben will!), und wenn schliesslich die subjektive Wirklichkeit eines anderen immer nur bedingt einsehbar und nachvollziehbar ist, dann lassen sich die herkömmlichen Formen der Erfassung oder gar vergleichenden Beurteilung von Lernergebnissen nicht mehr rechtfertigen. Radikal zu Ende gedacht, müsste auf die Erfassung und insbesondere auf die vergleichende Bewertung von Lernergebnissen verzichtet werden, denn eine Unterscheidung von richtig/falsch kann es so nicht geben.

4. Fazit

Diese Ausführungen verdeutlichen die bestehende Problematik des konstruktivistischen Ansatzes. Nicht nur verliert die Lehrperson als zentraler Faktor für den Lernerfolg der Schüler an Bedeutung und erfährt durch den konstruktivistischen Ansatz eine "Degradierung" ihrer Funktion, sondern gerade schwache Schüler leiden unter dieser Neuausrichtung des heutigen Schulunterrichts und sind mit offenen Lernumgebungen oftmals schlicht überfordert. Und dies in Anbetracht, dass weder Studien noch wissenschaftliche Untersuchungen den offenen Lernumgebungen einen besseren Lernerfolg attestieren.

Zu Ende gedacht führt der Konstruktivismus in die Beliebigkeit von richtig und falsch mit der Folge, dass eine vernünftige Beurteilung und Bewertung von Schülerleistungen aufgrund der "Unmöglichkeit" des Erkennens von richtig und falsch gar nicht möglich ist. Der Lernprozess wird zum Ziel und nicht mehr das Ergebnis. Zudem führt ein konstruktivistischer Unterricht zu einer schwerwiegenden Verengung der Aufgabe der Schule mit Fokus auf reine Problemlösung durch die Schüler. Bildung in einem umfassenden Sinn insbesondere unter dem Blickwinkel der Weitergabe unserer Kultur und unserer Denk- und Sichtweisen auf grundlegende Themen wie Welt, Staat, Gesellschaft und Familie findet kaum bzw. nicht mehr statt. Eine einseitige Betonung der Lösungsfähigkeiten von Berufs- und Alltagsproblemen durch die Schüler gepaart mit Nützlichkeitsüberlegungen führen letztlich zu einer Verarmung des Menschen. Der einzelne Mensch wird nicht mehr in seiner menschlichen Natur als Individuum und als Gemeinschaftswesen wahrgenommen, dessen Fähigkeiten und Begabungen ganzheitlich entdeckt und gefördert werden sollen. Zum Menschsein gehört nun einmal weit mehr als nur ein guter Problemlöser zu sein.



[1] Mit der Kritik und dem Aufzeigen problematischer Punkte am konstruktivistischen Denken soll nicht der Eindruck entstanden, dass es nicht auch kritische Aspekte beim hier als traditionell bezeichneten Unterricht gibt. Der Fokus dieses Artikels liegt jedoch auf dem Konstruktivismus.

[2] Dies bedeutet allerdings nicht, dass das Wissen keine Bedeutung mehr im Lehrplan 21 hat. Kompetenzen brauchen als Grundlage konkretes Wissen, jedoch dürfte dieses Wissen aufgrund der Fokussierung auf Kompetenzen im Lehrplan 21 nicht mehr den gleichen Stellenwert im Unterricht einnehmen.

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